Liebe Leserinnen, liebe Leser
Nächste Woche wird mein erster Enkel eingeschult. Einschulung, Schultüte, Start. Und ich habe als Lehrer ausgeschult und treibe inzwischen freischaffend und beratend in allen möglichen Schulwelten herum. Aber natürlich reizt mich eines sehr: Ich werde im Opakoffer wieder regelmäßig bloggen. Werde anfangen, die Schulzeit der Erstklässler/innen pädagogisch erzählend zu begleiten. Werde erzählen aus dem 35 Jahre alten Berufserfahrungsbauch an einem großen Landgymnasium. 25 Jahre als Verbindungslehrer, 10 Jahre als Fachabteilungsleiter für Schulentwicklung. Immer versucht, Lernprozesse durch die Augen der Schüler/innen zu sehen. Klar – ein Vierteljahrhundert „Anwalt“ der Schüler/innen zu sein, das prägt.
Nun also die Wissenschaft. Otto Kraz, der reine Praktiker – 35 Jahre lang – trifft nun zum ersten Mal sehr intensiv auf John Hattie, seine Studie und seine Effektstärken. (Übrigens, ich heiße in Wirklichkeit Heinz Bayer, bin 65 Jahre alt, war Studiendirektor für Schulentwicklung – nun außer Dienst – und habe mit meinem Team am Faust-Gymnasium in Staufen vor über drei Jahren eine virtuelle Schule in Weit im Winkl gegründet. Dort habe ich als Otto Kraz für meine realen Schüler/innen Physik unterrichtet. Das Pseudonym habe ich behalten, weil man in der Welt des Internet mit einem Künstlernamen leichter pädagogisch Blickwinkel ändern helfen kann.
Meine Absicht ist einfach. Jede Woche ein Thema aus dem Bereich eines Erstklässlers aus der Sicht eines Gymnasiallehrers zu bloggen. Von einem, der 35 Jahre lang als gymnasialer Physik-, Geografie- und Mathelehrer fachlich in erster Linie junge Physiker/innen zum Abitur begleitet, aber als Verbindungslehrer 35 Jahrgängen zugesehen hat, wie sie als kleine Fünftklässler/innen ankamen und als Abturient/innen wieder gingen. Ich habe immer sehr viele Kontakte gehalten. Deshalb weiß ich aus meiner eigenen 35jährigen Schulpraxis sehr gut um die Zusammenhänge zwischen dem individuellen Schüler-Sein und dem späteren „Erfolg im Beruf und im Leben“. Eines habe ich verinnerlicht: Die Noten sind es nicht, die später das Leben ausmachen. Und für diese Noten ist das einfache „Man muss nur die richtige Lerntechnik haben“ auch nicht die Lösung.
Schlag nach bei Hattie, der weltweit größten Metastudie zum Thema: Was ist eigentlich wirklich effektiv für Lernprozesse? Die „Selbsteinschätzung des eigenen Lernniveaus“ besitzt in Hatties Studie die höchste Effektivstärke. 1,44. Lerntechniken rangieren nur bei 0,59. „Uppps“ sagen Sie. „Aber hat dieser Hattie, hat der denn Recht?“ Na ja: Seine Aussagen beruhen nicht nur auf den Überlegungen eines der führenden Bildungsforscher unserer Zeit, sondern basieren auf 800 Metaanalysen, das entspricht 50 000 Einzeluntersuchungen. Geht also auf etwa 250 Millionen Schüler&innen zurück, die beobachtet, getestet, geprüft und analysiert wurden. Wer effektiv und erfolgreich Schule machen will, kommt um die Erkenntnisse von Hattie nicht herum.
Bei älteren Schüler/innen kann man auf das eigene Verstehen setzen. Wir hatten früher am Faust viele Schüler/innen vor dem Sitzenbleiben gerettet, in dem wir in den letzten 3 Monaten vor den Endzeugnissen sehr erfolgreich spezielle Beratungswochen angeboten hatten, in denen es genau um eines ging: Die Selbsteinschätzung des eigenen Lernniveaus. Wer einmal kapiert hatte, welch großartigen Effekt dieser spezielle Blick auf das eigene Lernen bewirkte, der hatte den Blickwinkel geändert und damit seine Schulsorgen über Bord geworfen. Diese Turbowochen zwischen Ostern und Pfingsten haben wir in diesem Jahr in Weit im Winkl angeboten. Aber eben für Schüler/innen – sagen wir ab Klasse 7.
Die Hausaufgabenhefte, die am Faust-Gymnasium entwickelt wurden und jahrelang erfolgreich im Einsatz waren, basieren auf ähnlichen Erkenntnissen, wie sie die Hattie Studie herausgefunden hat. Bei uns war es die eigene Intuition und das praktische Arbeiten mit Schüler/innen und mit der Erfahrung aus Tausenden von Biografien. Die Hausaufgabenhefte für inzwischen Viert- und Fünftklässler, die ich aus der Schule mit herausgenommen habe, sind echte Selbsteinschätzung des eigenen Lernniveaus – Hefte. Hattie Effektstärke 1,44.
Aber das passt erst für Klasse 4 aufwärts. Zuvor müssen noch die Eltern ein wenig mit ran an die Blickwinkeländerung. Wenn Sie also gerade Ihre Tochter oder Ihren Sohn mit Schultüte und allen Nervositäten, die dazugehören, für viele Jahre in diesen hochspannenden Lebensabschnitt namens Schule begleiten, dann lade ich Sie ein, dem Blog zu folgen. Einmal in der Woche. Das pädagogisches Geplauder eines Gymnasiallehrers, der im Moment begeistert Hattie studiert und versuchen wird, Hattie für Grundschüler&innen zu entwickeln. Mal sehen, ob ich damit nicht für meine Enkelkinder als alter, erfahrener Schulmeister ein wenig Professionalität und Klarheit in diese größte gesellschaftliche Veranstaltung unserer Gesellschaft bringen kann, über die so viel diskutiert wird, wie sonst kaum über ein Thema. Ich beginne mit den Erstklässler&innen.
Und bin selbst sehr gespannt.
Otto Kraz